Istanbul c'est Constantinopel
Etwas nervös waren wir schon, den Silberpfeil Richtung Istanbul zu steuern. Wir beschlossen, die Sache gemütlich anzugehen und uns zwei Tage Zeit zu nehmen, um die ungefähr 250 km von Samothraki nach Istanbul zu bewältigen. So würden wir ruhig und ausgeruht auf das istanbulsche Chaos treffen. Und vorher eine Nacht am Marmarameer gemütlich zelten. So der Plan.
Am Grenzübergang Ipsala verlassen wir die EU endgültig. Zumindest für ein langes Weilchen. Die Zöllnerin nimmt es genau und lässt uns ein paar Gepäckstücke ausbreiten. Danach folgen wir enormen Getreidefeldern und reizlosen Neubausiedlungen bis wir irgendwann wieder ans Meer stossen.
Ernüchtert stellen wir fest: Die ganze Küste ist zugekleistert von sogenannten Çadesis, türkischen Siedlungen, die aus jeweils einer Anzahl gleichen Häusern entlang einer Seitenstrasse oder einer Art Innenhof bestehen und meist umzäunt sind. Eigentlich haben wir keine Lust anzuhalten. Notgedrungen zweigen wir aber dann bei einem Campingplatz ab und mieten dort ein Holzhäusschen.
Ansonsten ist die Gegend, der Strand und überhaupt alles scheusslich. Das Meer stinkt zum Himmel und selbst uns Badenixen treibt die Hitze nicht in die Wellen. Das stinkende Flüsschen nebenan sieht verdächtig nach Kanalisationausfluss aus und wenn man auch noch daran denkt, dass ein Grossteil der istanbulschen Kloake ins Marmarameer fliesst, so vergeht einem die Badefreude.
Spätabends lesen wir vom Anschlag auf den Aratürk-Flughafen. Das stimmt uns natürlich nachdenklich. Vor allem macht es uns traurig und betroffen. Diesmal passiert es ja sozusagen vor unserer Haustür. Aber betreffen muss es einem ja eigentlich immer, als Mensch. Angst fühlen wir nicht und unser Besuch in Istanbul steht nicht in Frage.
Istanbul, das bedeutet eine neue gewaltigere Dimension, als wir sie uns vorstellen können. Die Autobahn, die in die Stadt rollt, ist vielspurig und führt lange vor der offiziellen Stadtgrenze durch Hochhaussiedlungen, die wir Schweizer nur mit offenen Mündern bestaunen. Viele sind brandneu, Bauboom wird hier neu definiert. Offiziell wohnen in Istanbul 14 Millionen Einwohner, inoffiziell wohl einige mehr.
Den Weg finden wir dank Davids Orientierungssinn erstaunlich gut, nur die Hosteladresse ist im Internet falsch angegeben. Deshalb machen wir erste Bekanntschaft mit türkischem Çai (Tee), mit der ausgeprägten Freundlichkeit der Türken (unaufgefordert bleibt man stehen, leiht uns das Telefon, gibt Ilias einen Kuss und Lilja den Titel Princess) und finden beim Suchen auch noch den bisher besten Fisch dieser Reise. Dann erklärt uns die Hostelbesitzerin Gonul am Telefon den Weg, ihr Haus liegt um die Ecke.
Das Hostel ist klein, gemütlich und Gonul und ihr Angestellter Isa sind sehr sehr freundlich. Nur zu empfehlen. Wir wohnen in der Nähe vieler Museen und aller wichtigen Sehenswürdigkeiten.
Über den Hügel spaziert, gelangen wir zur blauen Moschee, die in ihrem Inneren durch ihre Leere überrascht. Die Betenden sitzen auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden. Wände und Kuppeln sind mit kunstvollen Mosaiken verziert.
Da Ramadan ist, versammeln sich jeden Abend nach dem Ausruf des Muezzins bei Einbruch der Nacht überall Menschen und picknicken. Trotzdem sind wir uns nicht immer klar, was wir von der Religion halten.
Der Muezzin hat etwas Berührends, wenn er vielstimmig und ein bisschen verschoben aus den verschiedenen Moscheen über Istanbul hallt. Er ist ab auch penetrant, unterbricht alles und fordert die Gläubigen vehement zum Gebet auf. Den Sinn, eine Frau komplett mit schwarzen Tüchern zu verhüllen, sehen wir nicht ein. Wir bewundern hingegen das gelassene Nebeneinander. Frauen mit und ohne Schleier oder Kopftuch mischen sich zwanglos in Gruppen.
Beim Besuch der Haggia Sophia und des Topkapipalasts sind die Auswirkungen des Anschlags deutlich bemerkbar: nirgends müssen wir anstehen. Wo sich sonst um diese Jahreszeit Menschenmassen einreihen, marschieren wir einfach durch. Die Restaurants sind praktisch leer und man buhlt sich um uns. Ein komisches Gefühl, oft die einzigen Gäste zu sein und zu sehen, dass viele Betriebe ums Überleben kämpfen. Selbst im grossen Basar, wo normalerweise fast kein Durchkommen gibt, ist es beängstigend ruhig.
Wir geniessen es sehr, wieder einmal in einer Stadt zu sein. Immer ist irgendwas los, man kommt kaum zur Ruhe. Wir beobachten den Sonnenuntergang zwischen Fischern auf der Galata-Brücke und besuchen das Kino.
Wir bleiben bis spät in die Nacht wach und schauen Fussball an der belebten Istiklal-Strasse. Fern von zuhause interessiert es einem allerdings weniger, wer gewinnt oder verliert. Wir handeln am Bazar und werden von Meisterhändlern zu einem Geschäft überredet.
Wir fahren mit der Fähre zu den Prinzeninseln, machen dort ein Velotürchen und (ver)folgen die zahlreichen Pferdekutschen, die Fahrten über die Insel anbieten. Auf der Fähre staunen wir über den billigen Jakob, der für ein paar Lira Bohrer für Zitrusfrüchte verkauft. "Türkish Machina, oooohhhh!", sagt er jedesmal, wenn der Saft aus der angebohrten Frucht läuft. Faszinierend. "Türkish Machina, oooohhhh!"
Istanbul ist aber auch anstrengend und budgetmässig ein Verlustgeschäft. Trotzdem sind wir nach sieben wunderbaren Tagen sehr traurig, zu gehen und über die Bosporusbrücke Richtung Karadeniz, Schwarzes Meer zu fahren.