Karadeniz – Schwarzes Meer
Abschiede von einem schönen Ort sind immer besonders schwierig. Weil man a) wieder in Fluss kommen muss, beziehungsweise "in die Gänge", b) die Erwartungen an den nächsten Ort hoch sind, ja fast unmöglich zu erreichen und c) (in unserem speziellen Fall) weil wir ausgerechnet an Bayram (dem Abschlussfest des Ramadans) ans Schwarze Meer reisen – diese fabelhafte Idee hatte eine gefühlte Million Türken auch.
In Šile und Agva, zwei istanbulnahen Küstenstädtchen erweist sich der Verkehr als so schlimm, dass wir stundenlang im Stau stehen, denn wer einmal drin steckt, bleibt für die ganze Runde durch die Stadt eingepfercht.
Wir fliehen nochmals dutzende Kilometer weiter bis nach Karasu. Dort müssen wir ins Meer hüpfen. Allerdings ist der Genuss mässig. Selbst Rimini käme einem verlassen vor im Vergleich zu dem Völkerauflauf hier. Meist in grossen Gruppen tümmelt sich Klein und Gross am Strand.
Seltsam für uns: Bikinis gibt's praktisch nicht. Die Frauen tragen entweder T-Shirt und Shorts, lange Kleider mit Kopftuch oder einen pijamaähnlichen Ganzkörperbadeanzug.
Positiv: Ich habe noch nie ein Volk gsehen, dass mit so viel Freude stundenlang im Wasser herumhüpft. Da viele Menschen nicht schwimmen können, sieht man alte Grossmütter in Schwimmringen und dicke Männer mit Flügeli, die sich ohne Furcht in die grossen Wellen stürzen.
Negativ: Es gibt nirgends Papierkörbe oder Container. Ob's was genutzt hätte weiss ich auch nicht. Fest steht: der Strand sah aus wie eine versiffte Müllhalde. Niemand macht sich die geringste Mühe die Büchsen, Tüten, Essensreste, Spielzeugtrümmer, Zigarettenkippen und Verpackungen zu entsorgen.
Am ersten Abend am Schwarzen Meer campten wir an einem Unort, also DEM Gegensatz zu unserem gemütlichen Beinahezuhause in Istanbul. Ein kleiner, sumpfiger, vollgestopfter Camping ohne den geringsten Charme. Ach, die verflixten Gegensätze des Reisens.
In den nächsten Tagen folgen wir der ungefähr 1500 Kilometer langen türkischen Küste des Meers. Wir folgen kurvige Strassen, sehen immer wieder türkische Familien bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, beim Bräteln, Tee kochen und Picknicken.
Wir lernen die Launenhaftigkeit des Karadeniz kennen, die schon bei den alten Griechen gefürchtet war. Mal sanft wie ein Spiegel wandelt es sich schnell in ein tosendes Wellenmeer. Gewitter ziehen plötzlich auf und wieder davon. Strände sind selten, mehrheitlich ist die Küste von steilen Klippen und Uferböschungen geprägt, was Badeplätze selten macht. Noch seltener sind Campingplätze unterbrochen, weil die Küste so was von zugebaut ist, viel mehr Beton und Hochhäuser haben da nicht Platz.
Sinop
Unterhalb der kleinen Stadt, die über dem Meer trohnt und neben dem Flugplatz, finden wir den schönsten Campingplatz am Schwarzen Meer. Am einsamen Strand mit feinem Sand toben besonders Lilja und ich in den Wellen herum und zu viert bauen wir Manches aus Sand und nehmen uns danach die Zeit, dem Zerfall von Bergen und Burgen in Sonne und Wind zuzuschauen.
Wir treffen die allereinzigen nichttürkischen Touristen, sie waren mit dem Velo von Spanien nach China untwegs, mussten die Fahrt wegen der Krankheit der Mutter aber unterbrechen. Ilias und David gehen mit dem Nachbarn aus Ankara Fischen (der einfache Teil), das Ausnehmen und Entschuppen danach fällt schwerer. Die Fische schmecken aber gut.
Samsun
Den Namen kann man sich dank des fast gleichnamigen Handys gut merken. Samsun ist die grösste Stadt am Schwarzen Meer, doppelt so gross wie Zürich und zieht sich kilometerlang der Küste entlang. Wir gönnen uns ein Hotel und schlendern am Abend zum Denkmal von Mustafa Kemal Atatürk. Die Landung seines Schiffes Bandırma am 19. Mai 1919 gilt als Beginn des Befreiungskampfes gegen die Besetzung und Teilung der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg.
Übrigens: Bier gibt es ab diesem Punkt praktisch nirgends mehr in der Türkei. Von der Hochzeit, die wir von weitem beobachten, stehlen sich die Männer hinaus, um im Auto heimlich ein Bier zu trinken. Dafür wird einem überall starker, schlegelsüsser Čai serviert und es wimmelt von Konditoreien und Kuchenhäusern.
Amasya, Zile und Tokat
Wir fahren weg vom Meer, sind neugierig aufs Inland. Bei diesen Abstechern zeigt sich, wie fruchtbar diese Land ist. Getreide, Reis, Gemüse aller Art, Obstbäume, Tabak, Haselnüsse und natürlich Tee gedeihen prächtig auf enormen Flächen. Zwischen den Feldern sieht man manchmal heruntergekommenen Zeltlager der Wanderarbeiter, die beim Ernten helfen.
Wir erweisen den höhlenartig in den Fels geschlagenen Gräbern der pontischen Königen die Ehre. Hoch über dem Tal liegen ihre leergeräumten Ruhestätten an bester Stelle. Ein älteres türkisches Pärchen begrüsst uns auf Fränkisch – ähnlich klingt uns Jakob Arjounis Detektiv Kemal Kayankaya im Ohr – und drückt mir und den Kindern je einen dicken Kuss auf die Wangen. Sie freuen sich ab unserem Interesse an ihrer Heimatstadt, warnen uns aber vor den Einwohnern: Das sind Diebe!
In Zile schauen wir von der Akropolis auf die rund um die Stadt gelegenen Hügel auf denen Julius Cäsar die Ponten besiegte und danach seinen Triumph in einem Brief mit den berühmten Worten "Veni, Vidi, Vinci" zusammenfasste.
In Tokat übernachten wir. Anscheinend kommen die Leute aus dem Umland hierhin, um die Heiratsaussteuer zu kaufen. In den zahlreichen Läden der Altstadt kann man Goldschmuck in allen Varianten erstehen, Haushaltgeräte in Ratenzahlungen und natürlich auch Hochzeitskleider, die Lilja in Entzücken versetzen.
Ganz im Osten bei Trabzon fahren wir in ein Seitental, um zu Zelten und das berühmte Felskloster Sumela zu besuchen. Steil führt die Strasse in die grünen Hügel, dem Fluss entlang, an dem unzählige Forellenzuchten entstanden sind. Die Temperatur ist angenehm kühl.
Ins Kloster allerdings kommen wir nicht, denn es wurde für anderthalb Jahre zwecks Renovierung geschlossen. Das ehemals griechisch- orthodoxe Kloster wurde 1926 von dem letzten Mönchen verlassen, war jahrelang dem Zerfall ausgesetzt, aber ausgerechnet jetzt, im Jahr 2016 schliessen sie es und zwar komplett. Mehr als den Eingang sehen wir nicht, trotz einiger (illegaler) Kletterei. Schade.
In der dritten Nacht auf dem Camping Sumela ist irgend etwas anders als sonst. Um ein Uhr nachts singt sonst kein Muezzin. Dem aussergewöhnliche Gang folgt eine ernste Rede, die wir natürlich nicht verstehen, ab Polis kommt immer wieder darin vor. David ist beunruhigt, er geht via das Wifi im nahen Café ins Internet. So erfahren wir vom versuchten Putsch, Lage unklar. Unterdessen singt der Muezzin dreistimmig und der Campinghund drückt sich jaulend an mich.
Am nächsten Tag beschliessen wir, früher als geplant nach Georgien zu fahren. Wir haben keine Angst. Aber die Situation ist unklar, die Stimmung erscheint uns von Unsicherheit geprägt. Wir finden ausserdem, dass wir grosses Glück gehabt haben, Istanbul noch in friedlichem Zustand gesehen zu haben und auch den grössten Teil unser Schwarzmeer-Reise geniessen konnten.