Zwei Mal Tbilisi
Im Chrüzlistich - von Mestia über Tbilisi, Stepanzminda, Achalziche und Borjomi zurück nach Tbilisi setzten wir unsere Reise durch Georgien fort.
Von Mestia aus war die Hauptstadt Georgiens, Tbilisi oder Tiflis unser nächstes Ziel. Die Strecke wäre zwar in einem Tag zu bewältigen gewesen, doch wir legten in Kutaisi erneut einen Zwischenstopp ein. Leider war das Guesthouse unserer Wahl voll, wir wurden weitergereicht, erst an einen Ort an dem wir keinesfalls länger als eine Minute bleiben wollten, dann zu Giorgi, bei dem wir gerne blieben. Den Abend verbrachten wir auf dem "Unterhaltungshügel" Kutaisis, wo ein erstklassiges Restaurant auf die Eltern und eine günstige Tütschautölibahn auf die Kinder wartete. Zusammen drehten wir eine Runde auf dem Riesenrad.
Ein noch viel grösseres Riesenrad dreht auch über Tbilisi seine Runden. Auch hier gibt es eine Art Mini-Europapark auf dem Hügel über der Stadt, wohin sich früher bei Gefahr die Bevölkerung zurückzog. Hier warteten Kindheitserinnerungen auf Karin und mich, ein Spiegellabyrinth und eine Geisterbahn wie aus dem Bilderbuch von Ali Mitgutsch. Was haben wir gelacht, als uns hinter der knarrenden Türe der Werwolf zu überraschen suchte und uns eine Genspensterhand kühlen Wind hinterherwedelte. Lilja und Ilias sässen wohl heute noch in den kleinen Käfigen auf Rädern, wenn wir nicht Georgien und Tbilisi längst verlassen hätten.
Tbilisi ist eine heisse Stadt. Besonders im Juli. Nur Nachts sinken die Temperaturen unter 30 Grad Celsius wobei zu sagen ist, dass wir nur ganz am Schluss Hitze über 36 Grad am Tag erlebten. Der Ausflug an unserem letzen Tag in Georgien mit der U-Bahn – tief unter der Erde, nach Kanalisation riechend, aber herrlich kühl – an den Rand der Stadt kam deshalb genau richtig. Zu Fuss suchten wir uns den Weg, am Monument "Geschichte Georgiens" vorbei, das schwarz und klobig auf einem Hügel thront, über einen von Kiefern bewachsenen sonnenverbrannten Hügel, bis plötzlich einladend der Tbilisi-See vor uns durch die Zweige blinkte.
Hinein ins kühle Nass, zusammen mit allen anderen Tbilissianern, die auch Abkühlung suchen (es gibt in der 1-Millionen-Stadt Tbilisi zwar EIN öffentliches Bad, doch das ist seit zwei Jahre wegen Renovation geschlossen). Der See, der auch das Trinkwasserreservoir Tbilisis ist, war den Ausflug wert, inklusive dem Taxifahrer, der uns auf der anderen Seite auflädt und, radebrechend und händeschwingend, für kleines Geld ins Zentrum zurückfährt.
Ja Tbilisi. Breite Strassen voller Autos und Abgase, von alten Bäumen gesäumt. Prunkbauten von Kirche und Staat, nagelneue Luxushotels mit Auffahrt und fünf Meter breitem rotem Teppich, himmelhohe Plattenbauten ohne Lift auf dünnen Stelzen und mit kleinen Fenstern, lärmige Baustellen, flächig wie der Superblock in Winterthur ;-), voll schuftender schwitzender Männer. Düstere Unterführungen mit Läden die scheinbar ewig auf Kunden warten. Eisgekühlte Einkaufspaläste aller uns bekannten Marken. Davor stehen jeden Abend dieselben vielen Bettler und Strassenmusikanten und fordern Aufmerksamkeit und einige Lari. Essstände mit Brotfladen aller Art, Restaurants allenthalben, mit den typisch georgischen Gerichten, aber auch mit mexikanischer, italienischer oder indischer Küche. Und mit kleinen Katzen zwischen den Tischen, die laut miauend viele kleine Happen für sich fordern und einen grossen für ihre Mutter, die sich gleich daneben unter einem Auto versteckt hält.
Wir waren zwei Mal in Tbilisi, beim erstem Mal hofften wir jemanden zu treffen, was aber nicht klappte. Eine Enttäuschung, die uns einige Tage bedrückte, weil besonders Karin und ich zwischendurch gerne mal wieder ein tieferschürfendes Gespräch mit einem Dritten geführt hätten. Nichts gegen die Gespräche mit Lilja und Ilias, die sind oft unterhaltsam und lustig, drehen aber auch Schleifen. Quasi als Ersatz für die ausgefallene Begegnung "bewarben" wir uns via www.helpx.net für einen Helfereinsatz auf einem kleinen Bauernhof nahe der Grenze zu Armenien. Leider kam unsere Anfrage aber zu einem ungünstigen Zeitpunkt, das Paar das den Bauernhof führt war gerade damit beschäftigt, ihre Ernte an Restaurants und Läden auszuliefern.
So oder so wäre unser nächstes Ziel das nördliche Ende der sogenannten Heeresstrasse gewesen, der Ort Stepanzminda an der russischen Grenze. Die Fahrt dahin führte, wer hätte es gedacht, an Kirchen und Kappellen vorbei, und an einer Burg. Das dazugehörige Dorf liegt mittlerweile unter dem Wasser eines Stausees, indem sich gut planschen und baden lässt. Steil hinauf führt die Strasse entlang einer tiefen Schlucht, an deutschen Soldatengräbern auf der Passhöhe vorbei und an erkalteten Lavafeldern. Stepanzminda liegt hinter dem Kaukasuskamm am Fusse des 5043 Meter hohen Kazbegi und ist quasi Basislager für Bergsteiger und Bergtouren. Erneut mieteten wir via Internet ins Blaue eine Unterkunft und erneut hatten wir Glück. Ein grosses Zimmer und eine Terrasse mit Blick direkt auf den Kazbegi und eine Kapelle, die zwischen Dorf und Bergspitze gelegen, das beliebteste Fotosujet der Region bildet.
Der Kazbegi war uns aber dann doch zu hoch, doch wir unternahmen lange Wanderungen rings um den eindrücklich schönen Berg. Wir begegneten schwitzenden Russen die, schwer bepackt, ganz hinauf wollten, badeten am Fusse eines 20 Meter hohen Wasserfalls, schritten über ein endlos scheinende Ebene entlang dem Fluss Tergi, der später Terek heisst und um Tschetschenien herum ins Kaspische Meer fliesst. Wir ritten aus am Morgen, kehrten von unseren Touren am Nachmittag heim, kurz bevor das tägliche Gewitter lospolterte, und sassen am Abend unter aufklarendem Sternenhimmel beim Znacht und beobachteten Kühe und Lastwagen, die sich auf dem Dorfplatz kreuzten. Schubweise fahren 40-Tönner durch Stepanzminda in Richtung Russland, nur zwanzig aufs Mal dürfen an den Zoll, weshalb entlang der Strasse vor dem Dorf hunderte Lastwagen aufgereiht warten, zwei, drei Tage lang.
Auch zurück über den Kaukasus fuhr unser Toyota Corolla "Silberpfeil" ohne den kleinsten Aussetzer – "Braves Auto!" – zurück ins Zentrum Georgiens und nach Gori, der Geburtsstadt Stalins. Der Diktator wird hier nach wie vor in einem Museum verehrt, ohne die geringste Kritik an seiner Politik von Elend, Marter, Blut und Tod. Gezeigt wird Stalin alleine als Vater des Volkes, als visionärer Ökonom und als Verteidiger des Landes im zweiten Weltkrieg. Auch sonst fanden wir Gori keinen Aufenthalt wert, weshalb wir noch am selben drückend heissen Tag bis in die Mineralwasserstadt Borjomi fuhren, wo uns noch vor dem Parkieren eine ältere Frau winkend auf sich aufmerksam machte.
Eine schicksalhafte Begegnung. Sie vermietete uns ein Zimmer für eine Nacht oder zwei. Wir wollten in Borjomi den Park des Zaren ansehen, etwas gesundes Wasser trinken und auf einem Abstecher den Nationalpark erkunden. Nach einer Dusche brachen wir auf für den Znacht, böiger Wind und ein Himmel mit gelbem Stich begleiteten uns. Karin traf die richtigen Entscheidungen: Links und nichts Rechts und hinein ins Café, obwohl mir eigentlich mehr nach kräftigerer Speise war. Aber just als wir die Türklinke in die Hand nahmen, brach ein Unwetter der gröberen Art über die Stadt hinein. Rund eine halbe Stunde lang wechselten sich Hagel und riesige Regentropfen ab, hackten Blätter, Büsche und Kraut zu Mus, füllten (Achtung Spoiler!) Keller und Schächte und zerstörten den weit über hundert Jahre alten Park so sehr, dass er bis zu unserer Abfahrt aus der Region nicht wieder geöffnet werden konnte.
Wir sassen also am Trockenen, assen wenn auch nicht gemütlich so doch etwas entspannter als die Georgier ringsum Znacht und warteten auf das Ende des Sturms. So gegen 21 Uhr verliessen wir das Café. Durch Gassen voll mit kleinen Bächen und Gunten tappten wir zurück zum Haus, wo uns tiefe Dunkelheit empfing und eine verzweifelte Vermieterin. Dem Hang entlang war viel Wasser ins untere Stockwerk – unser Stockwerk – eingedrungen und hatte es knapp zehn Zentimeter hoch gefüllt. Wir krempelten die Ärmel hoch, montierten die Stirnlampen und halfen. Zwei Stunden lang schippten wir Wasser, zusammen mit dem Sohn und der Tochter des Hauses. Lilja und Ilias beschäftigten derweil den etwa dreijährigen Sohn. Erst gegen Mitternacht sanken wir ins Bett, im trockenen Nachbarhaus, das ebenfalls der Familie gehört.
Weil der Park nach dem Sturm geschlossen war – und bleibt, und in der Stadt auch sonst am Tag danach niemand Zeit für Touristen hat, fahren wir tiefer in den kleinen Kaukasus, nach Achalziche. Am Ausgang von Borjomi liegen die Hagelkörner links und rechts der Strasse noch gegen 12 Uhr Zentimeter hoch, doch wenige Kilometer weiter ist vom Unwetter nichts mehr zu sehen.
Rabati, die alte Burg und Altstadt von Achalziche, liegt über einem engen Flusstal. Von hier aus kontrollierten seit Menschengedenken mächtige Herscher den Handel zwischen dem fruchtbaren Halbmond und den weiten Steppen Asiens und entlang der Seidenstrasse. Höher und höher hinauf führt die Steintreppe im Bergfried, von dem aus der Blick weit über die karg bewachsenen Berge der Umgebung schweift.
Wir besuchen die Höhlenstadt Warzia, in der einst gegen 50 000 Menschen gelebt haben sollen, die aber schon 100 Jahre nach der Gründung im 13. Jahrhundert durch ein Erdbeben schwer beschädigt wurde. Wir kriechen durch enge Gänge tief in den Berg hinein, bestaunen die in den Fels geschlagene Kirche und fragen uns, wie das System gebaut war, das einst alle Wohnhöhlen mit fliessendem Wasser versorgte.
Zurück nach Achalziche führt die Strasse durch Canyons, die uns an den Westen der USA erinnern. Der Verkehr hier im Südwesten ist licht, einzig Laster aus der Türkei treffen wir häufig an. Sie müssen über Georgien fahren, wenn sie von Armenien in die Türkei oder umgekehrt unterwegs sind, weil die direkte Grenze aus politischen Gründen geschlossen ist.
Den Abschluss findet unsere Reise mit dem Silberpfeil durch Georgien im Nationalpark Borjomi, wo wir unter Tannen auf einer Alpwiese noch einmal Zelten und Kochen und die Kinder im Wald Seilbahnen und Häuser und einen Zoo für ihre Plüschtiere und Puppen bauen.
Eine lange Wanderung führt uns über 13 Kilometer und unglaublich steile 800 Höhenmeter an grasenden Kühen vorbei auf einen schmalen Grat hinauf und wieder hinab in ein tiefes Tal, an dessen Ende uns, oh Wunder, Kilometer von der Hauptstrasse entfernt, ein Fahrer freundlich sein Taxi anbietet und uns via Borjomi zurück auf den Campingplatz bringt. Wir singen am Feuer, lesen unsere Papierbücher fertig, sortieren unsere Siebensachen und bereiten uns auf unsere Abreise vor.
Zurück in Tbilisi wird uns die Zeit etwas lang, so gut klappen der Verkauf des Toyota Corollas an einen Georgier und das Versenden von Zelt, neuen und geliebten Schlafsäcken und der Fahrzeugnummerschilder in die Schweiz. Was wir von unseren Kleidern, Kochutensilien und Spielsachen nicht mehr brauchen, bringen wir einer Organisation, die in Georgien und Armenien Familien unterstützt und für Kinder Sommerferienlager durchführt.
Noch einmal Schach spielen im Aufenthaltsraum des Hotels Central, noch einmal in die Altstadt in unser Lieblingsrestaurant in einem Hinterhof, unbedingt noch Baden im See. Dann ist es soweit. Wir verabschieden uns aus Eurasien und fliegen via Istanbul und Djakarta nach Bali.