Die schwarzen Tränen der Arizona
Ein Besuch des US-Flottenstützpunktes Pearl Harbour auf Hawaii gibt Gelegenheit über Militärtechnik zu Staunen und über Unvorstellbares zu sinnieren.
Der Zweite Weltkrieg: Kaum etwas hat mich als 12- bis 14-Jähriger so beschäftigt, wie das Ringen um die Welt zwischen den Allierten auf der einen und Deutschand, Japan und Italien auf der anderen Seite. Von den Büchern zu dem Thema, die in meiner Reichweite waren, habe ich fast alle gelesen.
Dabei lag mir der Konflikt in Europa näher, schliesslich war die Schweiz ja mittendrin - und wundersamerweise doch nicht dabei. Erst nach und nach weitete sich mein Interesse auch auf den Krieg zwischen den USA und Japan auf der anderen Seite der Welt aus. Dabei war es vor allem die Technik von Schlachtschiffen, Flugzeugträgern und Flugzeugen, die mich faszinierte.
Bei unserem Stopp auf Oahu war ein Besuch von Pearl Harbour, dem Stütztpunkt der amerikanischen Pazifikflotte, darum unumgänglich. Der Hafen liegt rund 10 Kilometer westlich von Honolulu in der Perlenbucht, daher der Name Pearl Harbour. Ilias und ich fuhren mit dem Bus dahin, über holprige Strassen durch die Stadt und auf breiten Autobahnen, entlang von Hütten aus Plastikplanen, in denen Obdachlose übernachten, und neu gefertigten Einfamilienhäusern hinter Stacheldraht.
Beim Lesen über den Zweiten Weltkrieg fühlte ich als Jugendlicher fast immer mit den späteren Siegern. Zu entsetzlich war das Lügen und Quälen und Morden von Deutschen und Japanern. Krieg ist ja an und für sich entsetzlich, doch es gibt Situationen, wo es unvermeidlich ist, auf Seiten von Schwachen, Verzweifelten und Ermordeten in Konflikte einzugreifen. Auch wenn es selbstverständlich besser wäre, die Menschheit könnte auf Waffen möglichst bald und ganz verzichten.
Das Museumsgelände im Perlenhafen liegt mitten auf dem US-Flottenstütztpunkt, der nach wie vor voll genutzt wird. Der Hafen ist der Hauptgrund, warum die USA 1898 die Hawaii-Inseln anektiierten. Als „unsinkbarer Flugzeugträger“ und Armeestützpunkt erlaubte der Besitz Hawaiis den Amerikanern ihren Einfluss über den Pazifik bis nach Asien auszuweiten.
Das Museum umfasst neben der gesunkenen Arizona ein Unterseeboot, eine grosse Ausstellung von Flugzeugen und Hubschraubern sowie das Schlachtschiff Missouri, auf dem Japan die Kapitulationerklärung unterzeichnete.
Die Missouri ist ein Ungetüm von einem Schiff, das letzte seiner Art. Fast 50 Meter hoch erhebt es sich über dem Wasserspiegel.
Sein Inneres ist unterteilt in unzählige grössere und kleinere Räume, in denen eine ganze Stadt Platz findet.
Da gibt es Bäckereien, Wäschereien, eine Bank, separate Restaurants für Soldaten, mittlere und hohe Offiziere, haufenweise Schlafkojen und eine sehr gediegene Kapitänsunterkunft. Verbunden ist alles über ein Gewirr von Gängen, Röhren und Leitungen.
Mit den Kanonen der Missouri liessen sich Geschosse vom Gewicht eines VW-Käfers über 30 Kilometer weit verschiessen, die Raketen trafen Ziele in 600 Kilometern Distanz. Das Schlachtschiff war noch im ersten Golfkrieg im Einsatz, erst danach war seine Ära endgültig vorbei.
Der Krieg zwischen Japan und den USA war Ende 1940 kaum mehr zu verhindern. Zu sehr überschnitten sich die wirtschaftlichen Einflussgebiete und Interessen des kaiserlichen Japans und den USA. Zu weit hatte das Kaiserreich seine Grenzen ausgedehnt, begleitet von unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mehr und mehr erhöhten die USA den Druck und gingen schliesslich selbst davon aus, dass es bald Krieg geben würde.
Weil Japan sich seiner Unterlegenheit auf lange Frist bewusst war, entschloss es sich zu einem Überraschungsangriff. Ein Angriff ohne vorhergehende Kriegserklärung war für die USA unvorstellbar. Die Attacke der Japaner am 7. Dezember 1941 auf Flottenstützpunkt Pearl Harbour erwischte die Pazifikflotte und das Land darum auf dem komplett falschen Fuss. Unter dem Eindruck des Überfalls war es der US-Regierung danach ein Leichtes, auch die noch zögernden Amerikaner von einem Kriegseintritt zu überzeugen.
Im Sturzflug steuerten die japanischen Piloten an jenem Sonntagmorgen auf die amerikanischen Kriegsschiffe und warfen ihre Torpedos und Bomben ab. Den Tag sollte Amerika für sehr lange Zeit nicht vergessen. Matrosen, Soldaten und Zivilisten starben auf ihren Schiffen, auf Flugplätzen und in der nahen Stadt. In dem Hangar, wo Ilias und ich die Flugzeuge aus jener Zeit und den Jahrzehnten danach anschauen, leuchtet durch die Einschusslöcher der japanischen Kampfflugzeuge noch heute die Sonne.
Ein schreckliches Ende nahm insbesondere das Leben der über 1000 meist jungen Männer, die innert weniger Minuten mit dem Schlachtschiff Arizona untergingen. Ihr Schicksal treibt die Amerikanerinnen und Amerikaner noch immer um. Nach wie vor liegen ihre Knochen im stählernen Sarg in der Bucht von Pearl Harbour, noch immer steigt aus dem Tank des gesunkenen Schiffes ab und zu Öl auf und liegt schillernd auf der Wasseroberfläche. Schwarze Tränen werden die Öltropfen genannt. Auch am Tag unserers Besuches legen hunderte Amerikaner allen Alters eine Schweigeminute ein, in der schwimmenden Gedenkstätte über dem Schiffswrack.
Der japanische Überfall auf die amerikanische Pazifikflotte war der Auftakt zu einem entsetzlichen Ringen um die Vormacht in Ostasien. Weil in Pearl Harbour zwar einige ihrer Kriegsschiffe, aber keine Flugzeugträger vernichtet wurden, brauchten die Amerikaner nicht lange, um den Japanern Schritt für Schritt alle seit den 30er-Jahren gemachten Eroberungen wieder abzuknöpfen. Die USA beanspruchten dabei Glück (etwa in Midway), zahlten einen hohen Blutzoll (zum Beispiel in Okinawa) und waren am Ende bereit, die Entscheidung mit dem Abwurf von zwei Atombomben herbeizuführen.
Mich fasziniert die Militärtechnik nicht länger, zu sehr ist sie verbunden mit Elend und Tod. Ilias schwankt zwischen Bewunderung und Grauen. Er löchert mich mit Fragen. Warum tun Menschen so etwas? Warum lassen sich solche schlimmen Geschehnisse nicht verhindern? Warum gibt es niemanden, der für Gerechtigkeit sorgt? Ich gebe mein Bestes, doch echte Antworten habe ich nicht zu bieten, nur Erklärungsversuche. Die Menschen sind eben so. Jeder Mensch kann selbst Entscheidungen treffen. Und die vermeintlich absolute Gerechtigkeit führt oft zu neuem Unrecht.
Zum Glück heilen die meisten Wunden mit der Zeit. 76 Jahre sind seit dem Untergang der Arizona vergangen. Heute sind Japan und die USA Verbündete und die wenigen noch lebenden amerikanischen und japanischen Beteiligten des Angriffs von 1941 treffen sich ab und zu, um sich gemeinsam an das Ereignis und ihre toten Freunde zu erinnnern. Dass sich Feinde verzeihen können, ist ein kleiner Trost. Auf echten Frieden müssen wir weiter warten.