Im Bambus-Guesthouse am Vulkan
Es sind kleine Entscheidungen, die unseren Weg durchs Leben und durch die Welt bestimmen. Ja oder Nein? Links oder Rechts? Hostel oder Guesthouse?
Manchmal aber nimmt uns das Leben die Entscheidung ab, zum Beispiel weil in dem auf booking.com hochbewerteten Hostel kein Platz mehr frei ist, nicht morgen und auch nicht in einer Woche. Da fällt die Wahl leicht: Wir nehmen das Tiing Guest House mit dem laut Berichten netten Besitzer.
Nyoman Conto, der Guesthausbesitzer, ist tatsächlich ein freundlicher und aufmerksamer Mann. Auf den ersten Blick wirkt er klein und zerbrechlich, aber er bewegt sich schnell und es steckt eine sanfte Kraft in allem was er tut. Einst war er ein ausgezeichneter Pencak-Silat-Kämpfer. Diese balinesische Kampfkunst setzt darauf, den Gegner/das Gegenüber mithilfe dessen eigener Kraft zu überwinden.
Nyoman bedeutet „Nummer Drei“. In Bali werden die Kinder Eins, Zwei, Drei, Vier genannt, dann beginnt die Namensgebung von vorne. Conto lässt sich mit „Example“, also Beispiel übersetzen. Herr "Drei Beispiel" also ist unser Gastgeber für drei Nächte.
Das Tiing (Bambus) Guesthouse liegt im äusseren Krater des Vulkans Batur. Steil, sehr steil führt die Strasse hinab auf eine Terrasse mit Blick auf den inneren Vulkankegel. Nyoman vermietet hier drei Bungalows und zwei Räume. Von allen Bungalows aus bietet sich eine spektakuläre Aussicht auf die Lavafelder, den Kratersee und den 1717 Meter hohen Berg Batur.
Nyoman hat viel Zeit für uns. Weil seine Schwester von einem Haus gefallen und gestorben ist. Schlimm. Darum darf er für sieben Tage nicht in den Tempel und dies obwohl gerade einer der wichtigsten religiösen Festtage der Balinesen ansteht. Nyoman erzählt uns das in einem Nebensatz, weiter darüber sprechen mag er nicht und auch Trauer lässt sich (für uns) in seinem Gesicht nicht lesen. Gegenüber Fremden darf man sich nichts anmerken lassen, erklärt uns später ein Taxifahrer. Privat werde aber durchaus geweint.
Unglück und Glück liegen nahe beieinander. Nyoman hat sich nämlich gerade diese Woche ein neues Auto gekauft, einen funkelnigelnagelneuen Suzuki-Bus. So hat Nyoman einerseits die Zeit und andererseits das Mittel, mit uns ein wenig mehr herumzufahren als mit anderen Gästen. Zuerst mitten in der Nacht an den Fuss des Vulkanes für den Aufstieg. Dann in ein Dorf, dessen Bewohnerinnen und Bewohner leben, wie schon vor hunderten von Jahren. Und schliesslich an unsere nächste Destination ganz im Norden von Bali. Seine Frau Made kommt immer mit, auch sie freut sich über die Ausflüge mit dem neuen Fahrzeug.
Im balinesischen Ballenberg weist die Strasse wie in allen balinesischen Dörfern auf der einen Seite in Richtung Vulkan Agung, dem Sitz der "guten" Götter, und auf der anderen Seite in Richtung Meer, wo die "bösen" Götter hausen. In der Welt der Balinesen braucht es beide Seiten. Gut und Böse sind in einem ständigen Kampf und der Mensch steht zwischendrin. Vom Tempel auf der Bergseite führt die Dorfstrasse hinab zum Friedhof, wie auch der Weg des Menschen von der Geburt zum Tode führt. Wobei mit dem Tode das Ganze nicht endet, sondern im Gegenteil beginnt. Die Seele stirbt nicht, sie wird solange in einem neuen Menschenkörper wiedergeboren bis sie sich schlussendlich, irgendwie erlöst und/oder erleuchtet, im All auflöst.
Die Balinesen sind Hindus wie die Inder, aber sie haben dem Hinduismus eine eigene Prägung verpasst. Als Tier wiedergeboren zu werden etwa geht in Bali nicht und die Zahl der religiösen Kasten ist viel kleiner. Ausserdem sind Schranken zwischen den Kasten – und damit der Weg zur Erlösung – in Bali nicht ganz so hoch wie in Indien. Teuer ist der Weg zur Erlösung aber auch hier, weil für jeden wichtigen Anlass eine Zeremonie oder ein Opfer fällig wird. Gerade auch anlässlich des Festes Galungang, das just am Tage unseres Besuches im traditionellen Dorf gefeiert wird liegen die Opferkörbchen überall: Vor den Türen der Häuser natürlich und in den Haustempeln, aber auch in der niedrigen russigen Küche und neben den Schweinekoben, auf Motorrädern und Verkaufsständen, vor grossen Bäumen und auf Gräbern.
Das Preis-/Leistungsverhältnis im Tiing Guesthouse stimmt. Immer liegen Orangen, Mandarinen und Bananen bereit, wenn es zwischendurch einen kleinen Hunger zu stillen gibt. Auf dem Weg zum Gipfel des Vulkans gibt Nyoman uns Stirnlampen mit und verstellbare Wanderstöcke. Der Ausflug ins traditionelle Dorf kostet ausser etwas Benzingeld nichts, die balinesischen Kleider holt Nyoman aus seinen Schränken und kleidet uns zusammen mit seiner Frau auch ein. Der Gurt für die Männer ist die balinesische Krawatte und muss pingelig genau gewunden und gebunden werden. Ilias erhält ein Kopftuch, das genau waagrecht liegen muss, alles andere wäre lachhaft. Made faltet derweil den Sarong für Karin und Lilja, die ausserdem eine beinahe durchsichtige Bluse erhalten und von Nyomans Tochter grellen Lippenstift und Schminke ins Gesicht.
Nyoman ist 42-jährig und hat viel vor. Neben dem Guesthouse wächst ein junger Bambuswald auf 15 Hektaren Land, die ihm gehören und seiner grossen Familie. In zwei Jahren sei die erste Ernte möglich, sagt Nyoman. Vielerlei Dinge werden aus Bambus gefertigt, Möbel zum Beispiel aber auch ganze Häuser. Im Versammlungsraum im Haupthaus sind auf drei Tafeln die Organigramme des Unternehmens abgebildet. 25 Arbeiter sind mit der Plantage beschäftigt, die auch Mandarinen-, Orangen- und Bananenplantagen für die Selbstversorgung umfasst. Überall abgedruckt auf dem Info- und Werbematerial ist das Logo des Batur Global Geopark der zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Seine Firma sei eine von sieben Organisationen die mit dem Geopark zusammenarbeiteten, sagt Nyoman, der während unserer Fahrten durch die Region überall erkannt und begrüsst wird.
Schnell sind wir Teil seiner grossen Familie. Im kleinen, zum Guesthouse gehörenden Restaurant mit dem feinen Süsswasserfisch aus dem Vulkansee kocht seine Cousine zusammen mit Made und den Töchtern. Die Tochter der Cousine zeigt derweil Lilja Haus und Garten und möchte mit ihr eine Puppe tauschen. Allerdings sind Liljas "Kinder" absolut unveräusserlich. Am Nachmittag schaut Nyomas Mutter vorbei, sie wohnt im rund 70 Meter entfernten Grossfamilienhaus, und bringt süsse Reisküchlein mit. Nyomans Onkel – einer von sieben – reist für einige Stunden mit einer netten Touristin aus Balis Süden an und fährt uns mit dem Mini-Pickup und auf provisorischen Bambusbänken mitten ins schwarze Lavafeld.
Nyomans Englisch ist gewöhnungsbedürftig – wie unseres wahrscheinlich auch. Doch wir verstehen uns, beide Seiten fragen nach und sind bereit, den Gegenstand des Gespräches noch einmal und anders zu umschreiben. So erfahren wir viel über die Folgen der Ausbrüche des inneren Vulkans seit 1920, über die Frucht- und Gemüsekulturen, die im Krater gedeihen, über das balinesische Leben und einige Aspekte der für uns komplizierten Religion mit den vielen Opfern, den Haus-, Dorf- und Haupttempeln, mit ihren unzähligen Tänzen, Geschichten und Göttern.
Höhepunkt unseres Besuches bei Nyoman ist der Aufstieg auf den Zentralberg des Vulkanes Batur. Um vier Uhr morgens gehts los, auf einem schmalen, erst sanft, dann steil ansteigendem Weg. Über Wurzeln durch den Dschungel, über staubige Wege durch den Hang und schliesslich über Lavaschotter und -steine auf den Grat und zum Gipfel. Lilja zuvorderst, unterstützt von unserem Führer Sacha, dann Karin und ich und am Schluss Ilias, der sich an diesem Morgen schwer tut und ständig nach einer Pause fragt. Doch Lilja hält das Tempo hoch, so hoch, dass wir den zweiten Zwischenstopp und schliesslich auch den Gipfel weit vor der Marschtabelle erreichen.
Zuoberst müssen wir deshalb frieren. Am östlichen Horizont zeichnet sich zwar der Rinjani schon ab, der grösste Berg und Vulkan der Nachbarinsel Lombok, doch bis zum Sonnenaufgang vergeht noch eine ganze Weile. So sitzen wir denn da auf der kleinen Bank, eine Decke um und eine Isomatte unter uns, und warten zusammen mit einer ständig grösser werdenden Touristenschar auf den neuen Tag. Allmählich zeichnen sich die tiefer liegenden Berggrate ab, die Nebel, die aus dem Kratersee aufsteigen, die kahlen Hänge und die schwarzen Wälder. Zwischendurch führt uns Sacha um die Ecke zu einem kleinen Schlot, aus dem warme schweflige Luft aufsteigt und an dem wir uns die Hände wärmen. Auf Toast, Eier und Bananen haben wir wenig Lust, wir nehmen das Frühstück schliesslich wieder mit nach Hause und essen es da.
Das Warten lohnt sich, das Licht und die Aussicht vom Gipfel rauben uns die Worte. Sacha weiss, an welchen Plätzen auf dem schmalen Pfad um den Krater herum es Erinnerungsfotos zu machen gilt und er hat recht damit. Durch schwarzen Vulkanstaub rutschen wir hinab an den Ort, wo man hineinblicken kann in den Krater und wo wir alle zusammen ein paar Echos herbeirufen. Wenige Schritte entfernt liegt die Terrasse wo diejenigen Touristen hingeführt werden, die den Sonnenaufgang sehen, aber nicht ganz hinauf steigen mögen. Es sind mehrere hundert jeden Morgen und Tag. Die Einerkolonne zurück an den Ausgangspunkt unserer Wanderung ist deshalb lang und langsam. Einige Chinesinnen und Chinesen sind in Flipflops aufgestiegen und rutschen nun Zentimeter um Zentimeter wieder hinunter.
Wir haben das volle Paket gebucht, inklusive Besuch der heissen Quellen direkt am See. Es lohnt sich. Um ca. 9 Uhr lockern wir unsere Muskeln erst im warmen, dann im kühleren und schliesslich im heissen Pool. Beinahe nahtlos geht der Wasserspiegel der künstlichen Becken über in denjenigen des Sees mit den steilen dschungelbewachsenen Felswänden dahinter. In die andere Richtung liegt der Vulkan, an dessen Flanken es nun heisser und heisser wird. Lieber im warmen Pool als in der Hitze am Berg, denken wir, bevor uns Nyoman zurück fährt in sein Guesthouse und wir im luftigen Bungalow ausdauernd Mittagsruhe halten.
Noch für dieses Jahr plant der umtriebige Guesthouse-Besitzer einen Ausbau. Insgesamt drei Häuser mit je fünf Betten und der zugehörigen Infrastruktur will Nyoman ab November neben den Bungalows bauen. Möglichst komplett aus Bambus. Zielpublikum sind Reisende, die mit wenig Geld unterwegs sind und eine Unterkunft in einem Schlafsaal suchen. Knapp 15 000 Franken werde der Bau jedes der Häuser kosten, sagt Nyoman. Ob ich mich beteiligen wolle? Er schlage Fifty-Fifty vor, über die genauen Bedingungen könne man sich unterhalten. Ich verspreche ihm, von seinem Projekt zu berichten. Wenn ich in Bali in ein Guesthouse investieren könnte, dann würde ich auf Nyoman setzen.